Die Eignung metallischer Feinbleche und -bänder zum Tiefziehen wird mithilfe des Tiefungsversuchs nach Erichsen bestimmt. Der Versuch gehört zu den technologischen Prüfverfahren und ist in der Norm DIN EN ISO 20482 festgelegt.
Grundprinzip des Tiefungsversuches
Beim Tiefungsversuch wird eine Probe aus Blech oder Band zwischen einem Blechhalter und einer Matrize fest eingespannt. Danach wird ein Stempel mit polierter Stahlkugel in die Probe eingedrückt, bis in der entstandenen Einbeulung ein durchgängiger Einriss sichtbar wird und die Kraft abfällt.
Die Tiefe der Einbeulung, die dem Stempelweg bis zur Rissbildung entspricht, wird gemessen und als Ergebnis des Versuches - die Erichsen-Tiefung IE in mm - angegeben. Diese Tiefung muss größer sein als die in den jeweiligen Gütenormen vorgeschriebene Mindestwerte. In Abb. 1a ist ein kleines Erichsen-Gerät zu sehen, das per Hand angetrieben wird. Abb. 1b zeigt eine Probe aus Aluminium-Blech vor (links) und nach dem Tiefungsversuch (rechts).
Abb.1 Tiefungsversuch nach Erichsen a) Hand-Gerät, b) Blechproben vor und nach dem Versuch
Beurteilung der Anisotropie
Neben der Beurteilung der Eignung zum Tiefziehen liefert der Erichsen-Versuch weitere interessante Informationen über Eigenschaften des geprüften Bleches, nämlich ob es anisotrop oder isotrop ist.
Unter dem Begriff Anisotropie versteht man im Allgemeinen in der Physik und im Speziellen in der Werkstoffkunde und -prüfung die Richtungsabhängigkeit werkstoffspezifischer Eigenschaften. Diese Eigenschaft von Materialien steht nicht in Verbindung zur Heterogenität der Werkstoffeigenschaften.
Die Anisotropie kann im Aufbau bzw. der Struktur der Werkstoffe, deren Herstellungsverfahren begründet sein oder wird konstruktiv bewusst als Gestaltungs- und Dimensionierungswerkzeug eingesetzt. Tritt keine Richtungsabhängigkeit auf, dann bezeichnet man den Werkstoff als isotrop. Anisotropie ist also das Gegenteil von Isotropie. Weiterhin müssen nicht alle Eigenschaften eines Materials gleichzeitig richtungsabhängig sein. Anisotropie kann auch in polykristallinen Materialien mit Texturen auftreten, jedoch nicht in amorphen Materialien, diese sind immer statistisch isotrop.
Beim Tiefungsversuch kann aus der Form des Einrisses die Anisotropie des Bleches beurteilt werden. Bei einem isotropen Werkstoff folgt der Riss einem Vollkreis. Diesen Fall sehen wir in Abb. 2a bei einem Stahlblech. Bei einem Aluminiumblech (Abb. 2b) erkennen wir dagegen einen anders orientierten linienartigen Riss, der auf anisotrope Eigenschaften und auch auf eine Textur des Blechs hinweist.
Abb. 2 Verschiedene Formen des Einrisses im Tiefungsversuch nach Erichsen a) kreisförmig, b) linienartig
Eine eventuelle Narbigkeit der Probenoberfläche lässt Rückschlüsse auf die Korngröße des geprüften Bleches zu. Grobes Korn ergibt eine starke Narbung und Rauhigkeit, die auch als Orangenhaut bezeichnet wird.
Zum Schluss noch eine wichtige Frage: Wie können eine ungewollte Textur und anisotrope Eigenschaften eines Bleches beseitigt werden? Die Antwort heißt: Geeignete Wärmebehandlung, die als Rekristallisationsglühen bezeichnet wird. In Abb. 3 sehen wir zwei Proben aus einem Stück Messingblech nach dem Tiefungsversuch.
Abb. 3 Beseitigung der Anisotropie durch eine Wärmebehandlung (Erläuterungen im Text)
Die rechte Probe in Abb. 3 ist im Anlieferungszustand und weist einen linienartigen Einriss auf, der auf eine Textur und Anisotropie hindeutet. Links in Abb. 3 sehen wir eine Probe aus demselben Blech, die wärmebehandelt wurde und nach dem Tiefungsversuch einen kreisförmigen Einriss zeigt. Sie ist isotrop.
Der Tiefungsversuch nach Erichsen ist ein gutes Beispiel einer einfachen Prüfung, die viele wertvolle Informationen über metallische Werkstoffe liefert. <<
Alle Fotos von Bozena Arnold